Im Frühjahr und Sommer 1973 streikten in Deutschland über 300.000 Menschen, gegen den Willen Ihrer Gewerkschaften. Ihre Forderungen schlossen an die Geschichte vieler wilder Streiks seit den 1950er-Jahren an, von welchen es sowohl schmerzliche Niederlagen, wie den Streik bei Ford in Köln, doch es gab auch ganz ungewöhnliche Erfolge.
Schauen wir uns an, was sich damals abspielte, und warum der Streik so erfolgreich war!
Die Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg im nordrhein-westfälischen Neuss streikten für die Abschaffung aller Leichtlohngruppen, die dafür sorgten, dass Frauen weniger als Männer verdienten, und für eine Erhöhung des Stundenlohns um eine Mark.
Es war der erste Frauenstreik. In ihm standen sich migrantische Arbeiterinnen und deutsche Facharbeiter nicht getrennt gegenüber, sondern handelten gemeinsam.
Besonders war nicht nur dass es eben der erste Frauenstreik war, sondern auch die Vielfalt der Forderungen und Aktionsformen, als auch die Vielfalt der Beteiligten. Eben erst nach Deutschland gekommene jugoslawische Frauen, die unter unwürdigen Bedingungen auf dem Betriebsgelände wohnen mussten; eine griechische sozialistische Gruppe, die das ganze angestoßen hat, ein linker Betriebsrat, der sich solidarisierte, Juso- Gruppen, deutsche Feministinnen – sie alle wirkten zusammen und erreichten damals gemeinsam ungeheuer viel.
Sie traten nicht nur gegen den Unternehmer Alfred Pierburg an, der eine einflussreiche Stellung in der Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus inne hatte und in Deutschland Träger zahlreicher Orden inklusive des Bundesverdienstkreuzes war. Die streikenden Frauen waren auch massiv mit Rassismus der NS sozialisierten Vorarbeiter konfrontiert. »Ihr seid doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist, ihr Scheißweiber«, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich beim Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte.
Leider kam dazu auch noch die große Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger war, als die Interessenvertretung der Kolleginnen. Auch die Taktik der IG-Metall-Führung sprach eine deutliche Sprache. Sie tat alles, um den Streik wieder in die institutionellen Bahnen zu lenken, und überzog die oppositionellen Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen.
Trotz allem Bemühen gegen die Streikenden, selbst einer Polizeiaktion gegen die Frauen, war der Streik erfolgreich! Die hierarchische Tarifstruktur wurde angegriffen und führte zur Abschaffung der “Leichtlohngruppe II” (4,70 DM pro Stunde), in der nur Frauen beschäftigt waren.
In gewisser Weise ist der Pierburg-Streik damit ein Gegenbild zu dem viel bekannteren und bis heute viel stärker rezipierten wilden Streik, der zwei Tage danach bei Ford in Köln begann, der brutal niedergeschlagen wurde. Die Polizei räumte die Fabrik mit Gewalt, nahm zahlreiche Streikende fest und mehrere migrantische Arbeiter als angebliche Rädelsführer abgeschoben. Zuvor hatten Bürgerwehren die Streikenden bereits mehrmals angegriffen, unter tatkräftiger Mithilfe von den Betriebsräten.
Aber der Pierburg-Streik steht gleichzeitig und vielleicht noch stärker als der Ford-Streik, für das Potenzialmultinationaler Solidarität und Zusammenhalt!
Und das obwohl es anfangs mit der Solidarisierung auch in Pierburg nicht so leicht gewesen sein mag, denn die mitstreikenden Facharbeiter taten dies auch mit einiger Verzögerung.
Zwischenmenschliche Brücken mussten gebaut werden, die zögerliche Solidarität forciert werden und die Fairness und Gerechtigkeit bewusst gemacht werden. Dies gelang hauptsächlich durch das selbstbewusste und mutige Handeln der Arbeiterinnen.
Leider sind solche tollen Streikgeschichten heute längst vergessen und über die Geschichte der Arbeiterkämpfe unserer Großeltern kaum mehr etwas bekannt. Auch wenn viel erreicht wurde in dieser Zeit, so kommen uns doch viele Punkte die 1973 auf der Tagesordnung waren, leider immer noch allzu bekannt vor.
Die Einkommensschere wird immer größer und viele Superreiche profitieren von der Ausplünderung der Arbeiter, Erwerbslosen und Mieter. Aber auch der Abstand zwischen denen, die sich mit ihrem Lohn (noch) ein auskömmliches Leben leisten können und denen, die längst unter das Existenzminimum gefallen sind, hat sich erheblich vergrößert. Die Frauenlohngruppen sind schon lange abgeschafft, aber die Niedriglohngruppen haben sich mittlerweile in einen veritablen Niedriglohnsektor verwandelt.
Der Kampf gegen Ausbeutung ist mehr als nur Geschichte. Er hat gerade erst angefangen.